12. Mai 2023

«Je mehr man weiss, desto mehr sieht man»

Reportagenreihe «zTal und zBerg.
Schanfigger Momentaufnahmen». Heute im Porträt: Horst Kleinlogel

Wir treffen uns um 11 Uhr in Calfreisen, wo ein milder und sonniger Frühlingsmorgen in die Höh’ der Schanfigger Flora und Fauna lockt. Pünktlich erscheint Horst Kleinlogel beim verabredeten Treffpunkt und begrüsst uns herzlich. Der promovierte Biologe leitet und koordiniert die Arbeitsgruppe Biodiversität, die durch Exkursionen und Vorträge Wissen zu den naturnahen Lebensräumen im Schanfigg vermittelt. Als promovierter Biologe forschte er einst zu Zellbiologie, Pharmakologie und Elektrophysiologie. Als Pensionär lebt er seit fast 15 Jahren in Calfreisen und interessiert sich bis heute für die Schanfigger Natur – eine Leidenschaft, die er nicht nur tagtäglich lebt, sondern auch grosszügig mit anderen Menschen teilt.

Eine Wanderung inmitten der Herbstzeitlosen, dem Wiesen-Salbei, der Schneeheide und dem Frühlings-Fingerkraut

Für die heutige Biodiversitäts-Exkursion vom 6. Mai 2023, bietet Kleinlogel eine Wanderung vom Dorf Calfreisen zum Weiher Balnettis und in Richtung Maladers an. Ziel ist es, die erwachende Flora und Fauna bewusst zu erleben. Ausgerüstet mit Wanderschuhen, Wanderstöcken und einem Rucksack voll Proviant, geht’s zuerst durch eine noch kahle Eschen-Allee. Schon auf dem Bergweg in Richtung Maiensäss Balnettis beeindruckt das enzyklopädische Wissen von Kleinlogel. Immerfort beobachtet er Dinge, die dem ungeschulten Auge unsichtbar wären. So erzählt er uns kundig von den Ähnlichkeiten zwischen dem geniessbaren Bärlauch und den giftigen Herbstzeitlosen, ausserdem findet er nicht nur Wiesen-Salbei, sondern erspäht am Wegbord die Schneeheide und auf dem kargen Bergweg das gelbe Frühlings-Fingerkraut. Das Interesse der Natur gegenüber spiegelt er auch auf uns Wandernde. Unentwegt fragt er, wer was sieht und kennt, reagiert auf Kommentare und Fragen, was letztendlich dazu führt, dass auch wir allerhand entdecken und uns aufmerksam umschauen. Prompt erspäht jemand ein Reh, das sich hinter unseren Rücken in Richtung Waldgruppe bewegt. 

Überlagerte Zeiten: heute, vor 380 Millionen Jahren

Zur Mittagszeit erreichen wir den auf 1475hm gelegene Weiher Balnettis an der ehemaligen Kiesgrube, der – so erklärt er uns – 2020 mit einer Plane abgedichtet wurde. Kleinlogel führt uns entlang des Ufers und sensibilisiert für die feinen Differenzen: was unterscheidet die Kaulquappen der Wasserfrösche von denjenigen der Erdkröte? Welches sind die weiblichen Bergmolche, welches die männlichen? Zufrieden setzen wir uns ans Ufer und essen unseren Zmittag, während vor uns die Bergmolche auf- und abtauchen und wir uns darüber unterhalten, welches jetzt ein Männchen, welches ein Weibchen war. Kleinlogel nutzt die Gelegenheit und spannt den Bogen zwischen unterschiedlichen Zeiten. Er erzählt von der Evolution der Amphibien, die vor ca. 380 Millionen Jahren das Land eroberten. Dabei gäbe es auch einen Bezug zum Hier und Jetzt, zumal sich die durch die Kiemen atmende Larve zum lungenatmenden Landtier verwandle. Dieses Kontinuum der Evolution lasse sich auch beim Menschen beobachten, da sich sogar noch beim menschlichen Fötus in der 4.-5. Embryonalwoche die Anlage von 6 Kiemenbögen bildet. Es ist selbstredend, dass Kleinlogel zum Schluss als einziger noch keinen Bissen gegessen hat. Er habe – meint er – wohl etwas gar viel erzählt. Wir schmunzeln und warten nur zu gerne auf ihn, zumal wir währenddessen die wunderbar entschleunigte Atmosphäre inmitten der Schanfigger Natur geniessen können.

Mit offenen und geschärften Sinnen

Nach dem Mittag führt der Weg weiter entlang des Schanfigger Höhenwegs in Richtung Maladers-Chur. Wir bewundern die ersten leuchtend blauen Enziane der Saison und steigen  in Richtung des Tobels ab, das nach den Regengüssen der letzten Tage viel Wasser führt. Kleinlogel, der minutiös vorbereitet ist und den Weg im Vorfeld gewissenhaft abgeschritten ist, weiss genau, wo sich die sicheren Steine befinden. Bei der Überquerung steht er allen tatkräftig zur Seite. Zuletzt wird zwar der eine oder andere Schuh nass, unbesorgt gehts aber weiter zum angenehm kühlen Abstieg durch den Wald. Etwas später entdecken wir am Wegrand Moos. Es ist sinnbildlich, dass es heute nicht bei der einfachen Beschreibung «Moos» bleibt. Stattdessen ertasten wir die Unterschiede zwischen dem Weiss-, Gabelzahn- und Schlafmoos; das gleiche gilt für die Nadelbäume, die plötzlich als Fichte, Weisstanne oder Lärche erkennbar und unterscheidbar werden. Das am heutigen Tag alle Sinne angesprochen und geschärft werden, zeigt sich zuletzt auch am Gesang der Vögel: wir hören aufmerksam den unterschiedlichen Klängen der Tannenmeise, des Goldhähnchens, des Rotkehlchens, des Zaunkönigs und des Kolkraben zu. Auf dem Rückweg nach Calfreisen via Dörferweg studieren wir abschliessend die eigenwilligen Formen von Pestwurz und Huflattich und spazieren entlang blau blühender Leberblümchen und frisch erblühtem, weissen Sauerklee. Mittlerweile sind wir derart aufmerksam, dass wir auch selbst spezielle Pflanzen und verdächtige Tierspuren entdecken. Es spricht für Kleinlogels grosse Hilfsbereitschaft, dass er auch gegen Ende der Wanderung jederzeit einige Meter zurückeilt, um selbst einen Augenschein zu nehmen, damit er etwelche Fragen von uns beantworten kann.

Biodiversitätsangebote im Schanfigg

Nach rund 4 1/2 Stunden erreichen wir unseren Ausgangspunkt Calfreisen und kehren zum Ausklang in Norma Sprechers Gassa Beizli ein. Bei Sirup und Montalinzauber lassen wir das Gelernte Revue passieren und studieren gemeinsam das weitere Programm der Arbeitsgruppe Biodiversität. Am 20. Mai, von 8.45-12.00 Uhr, lädt Hans Strassmann zu einer Exkursion zwischen Peist und Molinis zum Thema «Die Vogelwelt unten im Tal – Arten und Lebensräume». Am 17. Juni, von 10.00-14.00 Uhr, bietet Brigitta Schatzmann eine Exkursion zum Thema «Bergblumen/Moore – Botanik Grundlagen» an, für die sie von Maselva aus die Region zu Fuss erkundet. Und am 9. Juli, von 10.35-13.00 Uhr, locken Gabriel Glaus mit Fabienne und Anita Fuhrmann auf die andere Talseite für eine Exkursion zum Thema Heimische Heil- und Genusspflanzen. Doch damit nicht genug, dieses Jahr können auch Schanfigger Kulturangebote erwandert werden. So kann man sich etwa im Vorfeld der Kirchenführungen in Lüen von Sidonia Kasper einer begleiteten Biodiversitäts-Wanderung mit Horst Kleinlogel anschliessen: am 22. Juli von Calfreisen nach Lüen; am 7. Oktober von Tschiertschen nach Lüen. Zuletzt kann man auch im Anschluss an die Walser-Stallführung «Uf Truaja» von Hans Scherrer vom 29. Juli mit Kleinlogel mitwandern. Gemeinsam wird von Peist über Fatschél bis nach Pagig ins Pagigerstübli gewandert, wo zusammen Mittag gegessen wird. Mit dem vielfältigen Biodiversitäts-Angebot im Schanfigg ist also für jeden Geschmack etwas dabei. Wir sind der beste Beweis dafür, dass es sich mehr als lohnt. Denn so viel wie heute, haben wir selten mal gesehen.

Weitere Infos zu den Angeboten der Arbeitsgruppe Biodiversität unter «Natur im Schanfigg»

Fotos: Ursula Meisser

Carla Cabrí Arosa Tourismus | © Arosa Tourismus
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Carla Gabri
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